Warum wissen selbst hochsensible Menschen so wenig darüber?
Obwohl Hochsensibilität wissenschaftlich belegt ist und auch immer häufiger thematisiert wird, wissen immer noch kaum Menschen etwas darüber. Selbst dann nicht, wenn sie selbst hochsensibel sind. Hochsensible sind häufig selbst nicht ausreichend informiert. Weder über ihre eigene Hochsensibilität, noch über Hochsensibilität im Allgemeinen. Doch woran liegt das eigentlich?
Meiner persönlichen Meinung nach liegt das an zwei entscheidenden Gründen.
- Es gibt Hochsensible mit den unterschiedlichsten Ausprägungen
Sie sind unterschiedlich in der Art der Hochsensibilität (bezogen auf die Sinne) und unterschiedlich in der Intensivität Verarbeitungstiefe und der Aktivität des Spiegelneuronensystems.
- Es gibt „DEN hochsensiblen Menschen“ einfach nicht
Auch wenn Hochsensibilität unser Leben entscheidend beeinflussen kann, so bestimmen doch noch so viel mehr Faktoren in unserem Leben darüber, wie wir letztendlich sind und wie wir uns verhalten. Wir alle sind einzigartige Individuen.
Das sind wir, weil wir alle verschiedene Erfahrungen gemacht haben, weil wir eine genetische Vielschichtigkeit und ein persönliches Schicksal haben. Unsere angeborenen Charakterzüge beeinflussen alles aber unsere Persönlichkeitsmerkmale (z.B. Introvertiertheit, Extrovertiertheit, Optimismus, Pessimismus, etc.) sind eben auch entscheidend. Und schließlich hat auch jeder Hochsensible seine sichtbaren Verhaltensweisen und Vorlieben (z.B. ob man jeden Morgen Kaffee trinkt, regelmäßig Sport macht, etc.), die uns zu Individuen machen.
Manche Hochsensible werden von ihrem Umfeld als sehr emotional, zurückhaltend bis schüchtern und zurückgezogen wahrgenommen. Andere haben solche dicken Schutzmauern um sich herum aufgebaut, dass sie als kaltherzig, arrogant und unnahbar wahrgenommen werden. Wieder andere Hochsensible sind selbst total laut und auffällig, weil sie das als ihre beste Strategie gelernt haben.
Laut Elaine Aron passt sich die „typische“ HSP ihrem Umfeld so gut an, dass ihre „Andersartigkeit“ meist maximal von denjenigen bemerkt wird, die sie wirklich sehr gut kennen. Wenn überhaupt. Da die deutliche Mehrzahl der Menschen Nicht-HSP sind, ist es auch sehr wahrscheinlich, dass die meisten HSP sich daher einem Nicht-HSP-Umfeld anpassen um nicht aufzufallen oder „um nicht aus der Reihe zu tanzen“.
Diese Anpassungsfähigkeit ist es auch, die sehr vielen HSP dabei hilft, sich im Leben zurechtzufinden und erfolgreich zu sein. Es gehört für viele zu ihrer Überlebensstrategie, ihr Verhalten ändern zu können (sich also anzupassen), wenn sie mit dem bisherigen Verhalten Fehler gemacht haben. Auch deswegen reagieren die allermeisten HSP äußerst stark auf jede Form der Kritik. Nimmt die Anpassung allerdings überhand, kann man sich das vorstellen, wie ein Linkshänder, der zum Rechtshänder umerzogen worden ist. Es geht. Es funktioniert und er kann schreiben. Aber es fühlt sich irgendwie immer „nicht richtig“, „komisch“ oder sogar „falsch“ an.
Dies gilt übrigens für hochsensible Männer genauso wie für hochsensible Frauen.
Da es in unserer Gesellschaft immer noch als eher „unmännlich“ gilt Gefühle und sich selbst als sensibel zu zeigen, haben besonders die hochsensiblen Männer sowie die hochsensiblen Frauen, die z.B. in einer eher männlichen Domäne Karriere machen wollen, gelernt Strategien zu finden, die sie nicht auffällig werden lassen. An dieser Stelle fällt mir noch ein weiteres Vorurteil ein, nämlich das viele dem Irrglauben unterliegen, dass die meisten HSP Frauen seien. Dem ist jedoch nicht so. Tatsächlich ist das ziemlich ausgewogen.
Und nicht zuletzt glauben wir Menschen auch einfach gerne, dass alle so denken und fühlen wie wir selbst und das alle Menschen doch gleich ticken. Auch deshalb ist die Individualpsychologie von Adler lange Zeit abgelehnt worden und konkurriert bis heute mit der von Sigmund Freud. Und auch deswegen sind in der Wirtschaft Interkulturelle Trainings nach wie vor so wichtig. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es eben nicht so ist. Es ist für die meisten Menschen einfach schwer vorstellbar, dass andere nicht so sind wie sie selbst und das nicht jeder das mag, was man selbst mag.
Wenn du jetzt denkst, „okay, hochsensible sind also sehr empathisch und überreizen schnell – das können doch auch alle anderen Menschen“. Dann hast du damit grundsätzlich recht. Nur bei HSP kann es eben deutlich schneller gehen, wenn sie nicht gelernt haben damit umzugehen. HSP brauchen daher mehr Strategien, z.B. mehr kleinere Pausen um kontinuierlichen Stress zu vermeiden und um sich wieder zu regenerieren. Und ja, Empathiefähigkeit kann man lernen. Man kann also als Nicht-HSP trotzdem ein Meister in Empathie werden.
Zum Schluss ist mir noch eine Sache sehr wichtig. HSP sind nicht besser oder schlechter als Nicht-HSP. Niemand sollte sich selbst oder andere auf einen einzigen Charakterzug reduzieren oder sich deshalb unterlegen oder überlegen fühlen.
Hochsensibilität ist bereits in deinen Genen festgelegt und außerdem vererbbar.*
Also auch wenn Ihre Eltern noch nie etwas darüber gehört haben oder darüber nichts wissen wollen, kann es sehr gut sein, dass auch sie hochsensibel sind. Sie haben nur einfach nicht gelernt damit zu leben. So wie wahrscheinlich auch Sie nicht.
Und wenn Sie denken, dass Ihr Kind hochsensibel ist, dann ist sicherlich mindestens einer von Ihnen als Eltern, ebenfalls hochsensibel. Wahrscheinlich nur auf eine ganz andere Art und Weise.
Sie können sich so wenig dafür entscheiden ob Sie hochsensibel sind oder nicht, wie Sie sich Ihree Körpergröße aussuchen können. Sie ist einfach da. Und Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich den Rest Ihres Lebens daran aufzureiben – oder das Beste daraus zu machen.
Ich persönlich empfehle da eindeutig zweiteres.
* Exkurs: angeborene Sensibilität / erworbene Empfindlichkeit
Hochsensibilität ist ein Temperamentsmerkmal, bei deren Entstehung Gene und soziale Faktoren zusammenwirken. Die Manifestation erfolgt schon in der Kindheit. Es gibt jedoch auch eine Sensitivität, welche erst im im späteren Leben entsteht und sich entwickelt. Hier würde ich eher von einer erworbenen Empfindlichkeit sprechen. Die Ursachen dafür sind vielfältig: ein traumatische Erlebnis ist ein Beispiel, welches ich hier nennen möchte. Nach solch einem Erlebnis ist es nachvollziehbar, dass ein Mensch die Welt ganz anders wahrnimmt als zuvor. Seine Aufmerksamkeit ist mehr nach außen gerichtet, um sich vor erneuter Verletzung zu schützen. Sein Nervensystem befindet sich in einer Art dauerndem Alarmzustand.
Der Unterschied zwischen hoher Sensibilität und Empfindlichkeit besteht vor allem darin, dass sich die Empfindlichkeit erst im Laufe des Lebens einstellt. Es handelt sich nicht um eine Begabung oder einen Wesenszug des Menschen, sondern um eine erworbene Reaktionsweise. Ebenso sind die Vorzüge der umfassenderen Wahrnehmung bei der erworbenen Empfindlichkeit durchaus nicht zu erkennen. Die Empfindlichkeit dient ausschließlich der Abwehr und dem Schutz. Ein zusätzlicher Hinweis, dass es sich nicht um die Anlage der hohen Sensibilität handelt, kann in dem Umstand bestehen, das die Empfindlichkeit auch auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt bleiben kann.
Beides (angeboren/erworben) kann auch zusammen auftreten und sich so auch gegenseitig steigern.